Ich selbst bin nicht der größte Mathematiker, und kann mich in den meisten Fällen auf meine Erfahrung und auf meine Softskills verlassen. Doch leider sind die Begriffe Glück und Wahrscheinlichkeit durch eine Art kosmisches Gesetz untrennbar miteinander verwoben, weshalb jeder ambitionierte Pokerspieler an einen Punkt kommt, an dem er sich mit Odds, Outs & Co. beschäftigen muss.
Im Turnierpoker ist im Augenblick ICM (independent chip model) state of the art, weshalb ich das Konzept anhand eines Beispiels erläutern will. Zunächst stellt sich die Frage, warum Odds und Outs für Turnierpoker nicht ausreichen. Im Cashgame ist jeder Chip immer gleich viel wert, egal ob ich ihn am Anfang der Session gewinne oder am Ende. Ich kann schließlich auch zu jedem Zeitpunkt den Tisch verlassen, und meinen Gewinn oder Verlust sofort realisieren. Ganz anders verhält sich das im Turnier. Zunächst steigern gewonnene Chips nur meine Lebenserwartung im Turnier, und im Laufe des Turniers verlieren die Turnier-Chips immer mehr an Wert. ICM macht im Wesentlichen nichts anderes als Chip Value in Cash Value zu konvertieren, denn das ist es (neben dem Ruhm des Sieges), was uns eigentlich interessiert.
Wie jedes mathematische Modell ist ICM eine Vereinfachung der Wirklichkeit, und nicht alle Faktoren (wie Skills der Spieler, …) gehen in die Berechnungen ein. Die wesentliche Annahme lautet:
relativer Chipanteil = Wahrscheinlichkeit für den Turniersieg
In Worten bedeutet das: Wenn ich 10% der Turnierchips halte, gewinne ich das Turnier jedes zehnte Mal. Diese mehr oder weniger plausible Annahme ist auch schon alles, doch nun schauen wir und das Ganze in einem kleinen Beispiel an:
Im 10€ SnG mit der Auszahlung 50€, 30€ und 20€ sind noch drei Spieler übrig. Spieler 1 hat 7.500 vor sich stehen. Spieler 2 und 3 halten 2.500 resp. 5.000 Chips. Spieler 1 hat die Hälfte der Chips, gewinnt das SnG also zu 50%. Für Spieler 2 lautet die Rechnung 2.500/(7.500+2.500+5.000) = 1/6 oder 16,67%, und analog 33,33% für Spieler 3. Der erste Schritt ist schon geschafft, doch noch ist nicht der gesamte Preispool verteilt. Deshalb folgt nun die Berechnung für den zweiten Platz:
Wenn Spieler 1 den zweiten Platz belegt, ist automatisch Spieler 2 oder 3 der Sieger – das leuchtet ein, oder? Es gibt also zwei Fälle, deren Summe die Wahrscheinlichkeit für Spieler 1 auf Platz 2 ergibt. Angenommen Spieler 2 macht das Rennen. Wie wir vorher gesehen haben, passiert das in 16,67% der Fälle. Dann matchen sich Spieler 1 mit 7.500 Chips und Spieler 3 mit 5.000 Chips um Platz 2. Gemäß unserer Annahme setzt sich dann Spieler 1 zu 7.500/(7.500+5.000) = 60% gegen Spieler 3 durch. Unter der Bedingung, dass der Sieger Spieler 3 ist, wird der Chipleader gar zu 7.500/(7.500+2.500)= 75% Zweiter. Da wir nun alle Fälle kennen ergibt sich insgesamt: 1/6 x 60% + 1/3 x 75% = 35%
Nun kann ich ganz leicht den Cash Value der 7.500 Chips von Spieler 1 berechnen: 50% von Platz 1 +35% von Platz 2 + 15% von Platz 3 = 38,5€ (oder 38,5% vom Preispool). Spieler 2 stehen
16,67% x 50€ + 25% x 30€ + 58,33% x 20€ = 27,5€ zu, und Spieler 3 34€. Diese Zahlen entsprechen auch einem fairen Deal. Mit ICM lassen sich aber auch Spielsituationen im Turnier leicht analysieren: Angenommen Spieler 2 geht All In und Spieler 3 überlegt zu callen (lassen wir der Einfachheit halber die Blinds weg). Gewinnt er, so steigert sich sein Cash Value auf 40€ (+6€), denn er steht mit gleichem Stack wie Spieler 1 im Head’s Up. Verliert er, dann tauschen Spieler 2 und 3 praktisch die Plätze und der Cash Value von Spieler 3 sinkt auf 27,5€ (-6,5€). Spieler 3 kann zwar etwas mehr verlieren als gewinnen, befindet sich aber beinahe in einer Cashgame Situation (da die drei Spieler schon ITM sind, auf der Money Bubble sieht es anders aus). Interessant ist auch, dass der heimliche Gewinner Spieler 1 ist. Obwohl er gar nicht in der Partie ist, gewinnt 1,5€, wenn Spieler 2 ausscheidet.
Euer Stefan