Schräge Gedanken – Von Gangstern und Dinosauriern – Das Nerd-Problem

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Von Gangstern und Dinosauriern – Das Nerd-Problem

Kolumne von Götz Schrage 06/2013

Poker NerdDie Dinosaurier sind weg. Die gibt es nicht mehr und was es nicht gibt, stellt auch keine Gefahr dar für nichts und niemanden. So sorglos und ungeschickt kann man sich gar nicht anstellen, dass einem ein Tyrannosaurus Rex den Kopf abbeißen würde. Die Gangster sind auch weg, zumindest von den Pokertischen. Aber weg ist nicht ausgestorben. Ab und zu verirrt sich ein rares Exemplar der einst den Kontinent des Glücksspiels beherrschenden Gattung in einen der Cardrooms und wird prompt nicht erkannt. In einer Zeit, in der sich Fußpfleger die Hände tätowieren lassen, ist das auch nicht weiter verwunderlich. Jedenfalls sind diese Begegnungen der unheimlichen dritten Art zwischen „nerdigem Grinder“ und Oldschool Gangster zwar sehr selten, aber durchaus möglich. Um jetzt dem mir von Gott und Jan Peter Jachtmann gegebenen Bildungsauftrag gerecht zu werden, werde ich in der folgenden Kolumne eine kleine Lehrgeschichte erzählen. Quasi eine Fallstudie aus dem echten Leben nach drei Uhr morgens.

Vorbei die Zeiten, als auch noch der dümmste Spieler wusste, was die Stunde geschlagen hat. Film, Funk, Fernsehen und Internetgeräte haben die Grenzen von Mode und Sprache verwischt und es braucht deutlich mehr als nur einen kurzen Blick auf Style und Habitus um zu wissen, woran man ist. Besonders, wenn man sich weder von der Sonnenbrille noch von den Kopfhörern trennen möchte und das Sichtfeld durch den „Hoody“ entsprechend eingeschränkt bleibt. Ein gutes Indiz bleibt allerdings die plötzlich verschwindende Security und auch ein aufgeregter Floorman mit roten Ohren, der sich mit dem Rücken zum Spieltisch in ewig komplizierten auszufüllenden Table-Rotation-Listen vergräbt, ist kein wirklich gutes Zeichen. Besonders mitten in der Nacht bei zwei Tischen und drei Dealern wäre diese Aufgabe für den ambitionierten Saalchef unter einer Stunde zu meistern, so man denn möchte.

Kürzlich wurde ich Zeuge so einer Begegnung der dritten Art. Dass ich in weiterer Folge nicht auch noch zum Zeugen bei Gericht wurde, war definitiv mein Glück des Abends. Sonst lief es mehr als lau, aber auch keineswegs teuer. Die Partie plätscherte so dahin und manchmal ist man einfach zu müde zu gehen und bleibt halt sitzen in der Hoffnung auf den einen fetten Pot oder zumindest das erlösende finale All-In. Besagter Oldschool-Gangster betrat den Spielsaal. Mehr schwankend, denn schreitend und in einem merklich zerstörten Zustand und entsprechend umnebelt von allen möglichen legalen und verbotenen Substanzen. Geleitet und gestützt von einem Leibwächter meines Alters, den ich flüchtig kannte, und von dessen strapaziertem Vorstrafenregister bekannt war, dass weitere Einträge im Akt schon aus Platzgründen wenig vorteilhaft wären. Also einer von den notgedrungen Weisen seiner Zunft und das sollte später noch wichtig werden.

Der junge, deutsche Pro neben mir, ein selbstgefälliger Idiot, der mit niemandem sprach außer mit sich selbst und so das Spielgeschehen halblaut und enervierend kommentierte. Der Gangster zupfte einen €500 Schein aus der Tasche und verarbeitete ihn schneller als sein erstes Getränk. Dann noch einen weiteren und noch einen und noch einen. Durchaus gut gelaunt – warum auch immer – und völlig unbeeindruckt von dem murmelnden Nerd neben mir. „Mann oh Mann. Geht gar nicht. Was für ein Call. Was für ein shity move. Mann oh Mann.“ Generell bekam der einst so plätschernde Tisch einen deutlichen Schub an Dynamik. Fast jeder presste sich in fast jeden Pot, weil es bei Treffer und Gegentreffer wirklich etwas zu ernten gab. Jeder hatte den Plan gegen den „Fisch“ am Turn Heads-Up zu sein. Am besten mit den Nuts und der Gegner bitte gleich drawing dead, aber trotzdem mit allen Chips dabei. Der Nerd neben mir hingegen blieb eisern bei seinem tighten Spielstil. Kopf schütteln und halblaut murmelnde Pot-Rezensionen schienen ihn ausreichend zu beschäftigen. Bis zu jener ominösen Hand, die er mit einem listigen Limp in früher Position startet, um auf das obligatorische, wenn auch leicht chaotische Raise des Gangsters zu warten. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass jenem das singuläre Zupfen von €500 Scheinen inzwischen zu mühsam geworden war und er stattdessen sein ganzes zu verarbeitendes Geld auf den Tisch gelegt hatte. Der Nerd hatte das wohl bemerkt und setzte ein wohldosiertes Reraise. Gerade so viel, um Heads-Up zu sein, aber in weiterer Folge das potentielle Opfer nicht zu sehr zu verschrecken. Wer foldet kann nicht gewinnen. Alte Pokerbauernweisheit.

Der Flop kam mit KQ2 rainbow und um die Story nicht noch zur Denksportaufgabe verkommen zu lassen. Mein nachbarlicher Nerd hatte selbstverständlich Top Set getroffen und wettet gleich von vorne so zirka 80% Potsize. Sein Wunschgegner beugte sich unter Mühen nach vorne, studierte mit einer gewissen Fassungslosigkeit den Flop, um dann wieder entgeistert seine Karten anzusehen. Das ging so dreimal hin und her und schließlich bezahlte er. Am Turn kam mit einer 6 eine absolute blank und der Nerd startete die Show. Scheinbar übersehend, dass sein Gegenüber in einen schlafähnlichen Dämmerzustand gefallen war und von seinem treuen Kumpel gestützt werden musste, um nicht vom harten Sessel auf den weichen Casinoteppich zu sinken. Der Nerd checkte. Der Leibwächter checkte auch stellvertretend. Der Dealer machte keine Anstalten den Gast zu wecken. Der Floorman saß immer noch verkrümmt und rotohrig hinter seinem Pult. Von der Security war sowieso weit und breit nichts zu sehen. Am River ein Jack. Flush war keiner angekommen. Der Nerd hielt einige Zeit inne, schien zu kalkulieren und zu überlegen und setzte dann bescheidene 60% Potsize. Scheinbar deutlich mehr, als der Leibwächter im Rahmen seines Pouvoirs verantworten konnte. Also wurde der schlummernde Chef geweckt, der verblüffender Weise nach einem kurzen Moment des Erwachens deutlich frischer und konzentrierter wirkte als davor. Ein Blick in die Karten, ein ungläubiger Blick auf den River. Diverse (wahrscheinlich) kurdische Flüche und schließlich – man glaube es kaum – bezahlen im Stehen und das ohne zu schwanken.

Schmatzend und selbstgefällig öffnete der Nerd, der aus unerfindlichen Gründen ebenfalls aufgestanden war, sein Set Könige und musterte dabei den Pot so, als ob er sich schon überlegen würde nach welchem zwangserkrankten Muster er den Mehrzuwachs an Chips genießen würde. Der Gangster, der seinen Kreislauf nicht über die Maßen strapazieren wollte, ließ sich zurück in den Sessel gleiten und öffnete seine Hand 9,10. Der Nerd, mehr fallend als gleitend, saß auch wieder auf seinem Sessel und schnappte hörbar und fischähnlich nach Luft, bevor er sich zu einer Tirade aufraffte, die ich aus Platzmangel nur verkürzt wiedergeben möchte: „Die Iditiotenstraße – so eine Scheiße – so ein Scheißcall – so ein Idiot – so ein Idiot – das ist so rigged – das ist so scheißrigged – das passiert nur mir – nur mir – und dann raist er mich nicht mal – der Vogel stellt mich nicht mal All-In mit der Idiotenstraße – als ob ich A10 spielen würde out of Position – so behindert – das gibt es ja gar nicht.“ – War es die abflauende Müdigkeit, die generelle Milde der Nacht, oder die Beschäftigung mit den Chips. Jedenfalls passierte gar nichts. Der Gangster ließ alle Beleidigungen souverän an sich abprallen. Der Leibwächter aß derweil einen Käsetoast mit extraviel Ketchup und der Dealer durfte sich über ein ordentliches Trinkgeld freuen. Nur der Nerd wollte sich der entspannten Atmosphäre nicht anschließen. „Du weißt schon, dass du scheiße spielst – weißt du das wenigstens? – Du weißt schon, dass du broke gehen wirst wie alle Idioten – wer so spielt wie ein Fisch kein Wunder. – Hier hast du noch ein paar Chips – du wirst sie sowieso verlieren du Fisch“ und warf nach der Reihe drei Einser-Chips quer über den Tisch.

Das war dann offenbar doch zuviel des Guten. Der Gangster warf die geschenkten Chips dem Dealer zu und stammelte ein überraschend verständliches: „Jetzt ist gut Burschi. Jetzt ist Ruhe.“ Aber der Nerd hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt, schimpfte und fluchte weiter und griff sich weiter Chips, die er über den Tisch warf. „Burschi. Jetzt ist aus. Verstehst du? Aus ist.“ Der Leibwächter hatte inzwischen den halbkalten Toast auf die Seite gelegt, als sei ihm plötzlich der Appetit vergangen und er blickte auffällig sorgenvoll erst auf seinen Chef und dann auf den schimpfenden Nerd. Der Floorman war inzwischen auch verschwunden. „Nimm die Chips nur. Du kannst sie brauchen. Wer so schlecht callt und dann nicht mal raist, wenn er den Bauchschuss zur Idiotenstraße kauft, braucht jeden Chip. Idiot!“ Ein letzter sehnsüchtiger Blick auf den halbwarmen Käsetoast und mit panterartiger Geschwindigkeit und Eleganz sprang der Leibwächter herbei, packte den Kopf des Nerds entschlossen, aber keineswegs brutal mit allen zehn Fingern und flüsterte ihm einen längeren Text ins Ohr. Obwohl ich direkt daneben saß verstand ich leider kein einziges Wort. Es muss nur mächtig Eindruck gemacht haben, weil der Nerd sagte zwar kein einziges Wort, versuchte aber mehrfach zustimmend zu nicken. Kein leichtes Unterfangen bei dem schraubstockartigen Griff des Leibwächters. – Dann passierte nichts mehr Besonderes. Es herrschte Frieden am Tisch. Der Nerd spielte und schwieg. Nicht das kleinste Murmeln war mehr zu hören. Immerhin ergriff er nicht die Flucht. Konnte zwar keinen Pot mehr gewinnen, aber durch sein pures Bleiben zumindest einen Hauch meines Respekts.

Conclusio, wenn Sie wider Erwarten beim Picknick einen Dinosaurier treffen, dann machen Sie ruhig ein Foto für Facebook. Wenn Sie allerdings nächtens in einem der Cardrooms auf die Kombination Betrunkener mit viel Geld und kräftiger Begleitung treffen machen Sie besser kein Foto. Wenn dann noch die Security verschwindet und der Floorman nervöse Flecken im Gesicht bekommt bleiben Sie bitte höflich und werfen Sie keinesfalls mit Chips und Kommentaren um sich – Besser ist es.

Götz Schrage
Autor: Götz Schrage

 

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