Schräge Gedanken – Das letzte Geld – Die Gnade der Kellner

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Kolumne Götz Schrage 02/2009

CCC Million Goetz SchrageNachdem ich in meiner vorigen Kolumne ein wenig über die großen Geldscheinbündel schwadronieren durfte, thematisiere ich diesmal mein wahres Fachgebiet: das letzte Geld. Nicht zu verwechseln mit dem letzten Chip, weil der ist ja tatsächlich absolut und damit eben absolut wertvoll ist, da der letzte Chip bekanntlich über Verbleib oder Ausscheiden aus dem Turnier im wahrsten Sinne endgültig entscheidet.

Das letzte Geld hat da deutlich weniger Dramatik. Der Status ist zwar äußerst lästig, aber beruhigenderweise konsequent und stets relativ. Geld wächst immer irgendwie nach – und das mit höchster Verlässlichkeit. Allerdings kann man diese Wachstumsphase nicht immer wie gewünscht entsprechend beschleunigen, und das kann dann mitunter ein wenig bitter werden.

Am Pokertisch früh morgens nach einer üblen Nacht mit noch übleren Bad Beats und der stetig zunehmenden Erkenntnis, dass man weichgeklopft von den Schicksalsschlägen am River endlich so schlecht spielt, wie man es angesichts der nächtlichen Bilanz wohl auch verdient hat. Man weiß, es geht für heute nicht weiter. Keine Kraft mehr, keine Kreditkarte mehr, man will nur noch ins Bett, und alles, was einen hindert aufzustehen und leise fluchend (oder vielleicht laut schimpfend) das Casino zu verlassen, ist dieses jämmerliche Häufchen Chips, das vor einem in unbedankter Treue steht. Wie schnell kann man 5.000 Euro verlieren, und wie schwer tut man sich dabei die restlichen 235 Euro zu verarbeiten – das gefühlte „Ist-auch-schon-egal-Geld“.

Ist es natürlich nicht, und irgendwie weiß man das. Würde all das kleine Geld, welches ich in Momenten großer Niederlagen noch quasi willenlos und unnötig hinterhergekippt habe, in Münzen auf mich einregnen, es bräuchte wohl einen besonders ambitionierten Lawinenhund, um mich zu befreien. – Also um dieser Kolumne eine gewisse Sinnhaftigkeit zu geben und dem pokerblatteigenen Bildungsauftrag nachzukommen, folgende Erkenntnis: Auch kleines Geld kann man wechseln, und es fühlt sich spätestens draußen in der freien Wildbahn nett und lebendig an.

Apropos lebendig und vor allen Dingen draußen: Eine kleine Anekdote aus den seligen Draw-Zeiten, als 7-Card-Stud als „neue Variante“ galt und Lothar Matthäus gerade seinen ersten Profi-Vertrag bei Borussia Mönchengladbach unterschrieb. Ort des Dramas ist eine dieser schnöden Vorstadtvillen. Drei Söhne aus besserem Diplomatenhaus mit mächtig Taschengeld und wenig Ahnung, und ich mitten drinnen, bar jeder Fortune und nach einer durchzockten Nacht müde und ohne weitere pekuniäre Munition. Das tatsächlich letzte Geld hatte ich riskiert. Mein Motto: Wer verlieren kann, kann auch Straßenbahn fahren (auch wenn man mitunter gerade auf die erste Straßenbahn am Morgen besonders lang warten muss).

Egal, ich hatte den entscheidenden Pot verloren. Meine Zigaretten gepackt, die Jacke auch (nein, Handys gab es damals noch nicht und Bankomaten übrigens auch nicht – und selbst wenn, wären die Erfolgsaussichten an diesem Automaten ähnlich gering gewesen wie bei den bunt blinkenden).

„Soll ich dir was leihen?“ – ein nettes Angebot des Hausherren. Wenn ich mich richtig erinnere, der Sohn des israelischen Kultur-Attaché. „Nein danke“, setzte ich meinen letzten Bluff für die Nacht an. „Ich habe noch genug einstecken, nur keine Lust mehr“. Sagte es und verschwand Richtung Haltestelle. Es war der Morgen des 1. Mai. Die Häuser waren in der österreichischen Tradition mit rotweißroten Fahnen beflaggt, die Luft war klar, die Morgensonne mild und die Straßenbahn kam und kam nicht, weil eben 1. Mai und (damals) ausgerechnet am Tag der Arbeit genau ebenselbe komplett eingestellt wurde.

Was tun? Nochmals zurückgehen? Und wie sollte ich das dann erklären und vor allen Dingen, wie sollte ich das mit meinem ohnedies angeschlagen Stolz vereinbaren? So erweitere ich mein ohnehin misanthropisches Motto in: Wer verliert, kann auch zu Fuß gehen. Wenn das im konkreten Fall auch sicher an die acht Kilometer waren.

Die zweite kleine Geschichte hat einiges zu bieten und führt uns fast in die so erfreuliche Gegenwart. Happy End ist garantiert, plus als Extrabonus eine vielleicht noch nicht bis ins letzte ausgereifte Theorie zum strategisch korrekten Bezahlen der mitunter doch recht hohen gastronomischen Außenstände. Konkrete Situation: durchgespielte Nacht, die Beschädigung in der Größenordnung eines tadellosen Kleinwagens (inklusive elektrischen Fensterhebern) und die letzten Bargeldreserven in Form von ein paar traurigen Restchips vor sich liegen. Das große Blind rückt besorgniserregend näher, der stirnrunzelnde und besorgte Kellner ebenfalls. Jetzt heißt es schnell bezahlen. In so einer unvorteilhaften Situation sollte man seine Rechnung begleichen, bevor man dann under-the-gun mit K8 suited all-in geht. Ein ungeduldiges lautes „Service!“, der Kellner unvermutet in der Abdrehrunde Richtung Bar. Hört mich, sieht mich, wirft sich in Position, zückt die respektgebietend große abgewetzte Brieftasche, während ich mehr aus Gewohnheit eine kurzen Blick in meine Karten werfe. – Unglaublich, aber wahr! Die Asse lachen mich an. Der Kellner lächelt zumindest gequält: „Sie wollten zahlen, Herr Schrage.“ Ich blicke auf meine Chips – der bilanztechnische Abfluss durch voreiliges Begleichen der zu erwartenden horrenden Rechnung hätte mein Stack mehr als halbiert. „Zahlen? Wieso zahlen? – Ich wollte einen großen Mokka, schwarz wie meine Seele, bestellen.“

Die enttäuschte Servierkraft verließ seufzend die Szene, und ich schob mein letztes Geld hoffnungsvoll in die Tischmitte. Was soll ich sagen? Wollten mich die anderen loswerden? Hatten die alle von Cashgame auf Turniermodus geschaltet? Oder hatten tatsächlich alle vier Caller eine legitime Hand? Meine Asse hielten, mein Stack war vervierfacht. Großes Blind konnte kommen und ich hatte wieder die Asse (gestatten Sie mir ein Wort in eigener Sache – die wenigsten meiner werten Leser kennen mich ja persönlich. Deshalb mein Appell, bitte glauben Sie mir das einfach mit den zweimal Assen nacheinander. Hätte ich die Absicht zu flunkern, würde es mir nicht an der betrügerischen Fantasie mangeln, um eine andere – ebenfalls siegreiche – Hand zu konstruieren). Nun, die Asse hielten noch einmal, und ich war wieder mit dabei. Etliche Stunden und schwarze Mokkas später hatte ich alles aufgeholt und noch ein kleines Plus gemacht. Der sorgenvolle Kellner war natürlich längst nach Hause gegangen und hat mit seiner wohl deutlich optimistischeren Ablöse meine Außenstände intern abgerechnet. Nach Beendigung der Session gab es dafür ein fettes Trinkgeld, weil Risiko schließlich belohnt werden muss.

Abschließend gestatten Sie mir noch ein paar mahnende Worte: Vor einer turbulenten Partie unbedingt volltanken oder besser noch mit dem Fahrrad anreisen. Zweitens verwechseln Sie niemals die casinointernen Hierarchien. Man kann mal mit dem Dealer streiten, mitunter tut es einfach gut, den Floorman mit einem lautstarken Schreiduell herauszufordern. Sich mit der Security auf einen spontanen Raufhandel einzulassen, ist der Gesundheit meist nur wenig zuträglich (zumindest Ihrer Gesundheit). Nur wirklich niemals dürfen Sie es sich mit Ihrem Stammkellner verscherzen, sonst könnte es in Ihrer dunkelsten Spielerstunde plötzlich heißen: vom High Limit Zocker zum Tellerwäscher. Und das wollen wir doch auf jeden Fall vermeiden. In diesem Sinne ein gutes Blatt!

Autor: Götz Schrage

 

 

2 KOMMENTARE

  1. Rückwirkend muss das 2009 schon ein seltsames Schauspiel gewesen sein. Da taucht so ein 90 cm Zwerg mit Schuhen, deren Absätze einen Meter hoch waren, für ein paar Minuten in einem Casino oder Cardroom auf, nur um nach einen Selfie mit Pokertisch im Hintergrund genau so schnell wieder zu verschwinden.
    Wer die ganze Nacht vor Ort gewesen ist, hat sich dann beim Lesen des Artikels erstaunt die Augen gerieben, was sich noch alles an dem Abend abgespielt hat. Aus fünfzehn Österreichern und drei Deutschen wurde dann eine UN-Vollversammlung, deren kleine Anekdoten sogar Baron Münchhausen die Zornesröte ins Gesicht getrieben hätte.
    Heute erfreut sich der Master of Disaster vorzugsweise an den Ausdünstungen von Sozialtouristen,was ihn an seine Kindheit erinnert. Die Nasenscheidewand ist inzwischen derart perforiert, dass sich die Atmung wie bei Darth Vader anhört.
    Die mitleidigen Blicke beim Billa deutet der Hardcore Refugee Sniffer als Bewunderung seiner bloßen Anwesenheit. Die gute Nachricht: Nennenswerte Gehirschäden dürften keine mehr dazu gekommen sein. Die schlechte Nachricht: Der Großteil seiner Nervenzellen hatte sich schon Jahre vorher ins geistige Nirvana verabschiedet.
    Sollte jemand Rollator-Götz in der Fußgängerzone Mahü entgegengerollt kommen, dann macht ein bischen Platz, nickt verständnisvoll und sagt ein paar aufmunternde Worte. Da steigt ihm bestimmt das Wasser in die glasigen Augen.
    Sein Gnadenbrot mit recycelten Artikeln auf Hochgepokert hat sich der alte kranke Mann auf jeden Fall verdient.

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