Ich nehme mir vor, mir nichts mehr vorzunehmen – Lügen und die drei gute Karten-Theorie
„My ambition is handicapped by laziness“ Charles Bukowski
Selbstverständlich mache ich auch im richtigen Leben kaum etwas, wie es sich gehört. Nur merkt das so schnell keiner. In meiner Disziplin, Tarnen und Täuschen, bin ich perfekt. Meine trickreichen Manipulationen sind so ausgeklügelt, dass ich am Ende manchmal selbst nicht mehr weiß, was eigentlich Sache ist. Eine kleine unschuldige Kolumne, wie diese, beginnt beispielsweise garantiert mit einer Lüge samt dem dazugehörigen Selbstbetrug. Wenn sich Kollege Hachmeister erstmals meldet, um mich freundlich an den Abgabetermin zu erinnern, kommentiere ich das in der Regel mit einem: „Bin schon fast fertig, muss nur noch etwas ändern, gebe aber trotzdem verlässlich und pünktlich ab.“ – Das mit dem „fast fertig“ ist glatt und unbarmherzig gelogen. In meinen schlimmsten Zeiten war ich obendrein so skrupellos beim Lügen, dass ich extra noch mit irgendwelchen zufällig daliegenden Papierresten geraschelt habe, um den Eindruck zu erwecken, ich säße bereits vor einem ausgedruckten Text mit gezücktem Korrekturstift. Den zweiten Teil, von wegen „verlässlich und pünktlich“ abgeben, glaube ich tatsächlich. Das ist dann der Selbstbetrug und der fliegt erst auf, wenn gar nichts mehr geht. Wenn es dann unmöglich wird, auch nur annähernd in der Zeit fertig zu werden, dann wird es wirklich kompliziert. Irgendwie komme ich dann aus der Nummer am Ende aber immer wieder raus und mein Artikel wird noch knapp vor Veröffentlichungs-Termin fertig. Nach einem kurzen Moment der Erschöpfung, starte ich dann mit den guten Vorsätzen fürs nächste Mal, tief in meinem Inneren wohl schon ahnend, dass es nach demselben Muster wie immer ablaufen wird.
Beim Spielen läuft es zwar ein wenig anders, allerdings bleibt das Grundprinzip dasselbe. Ich nehme mir etwas vor und halte es dann doch nicht ein. Langsam neige ich dazu, ohne anstrengende Vorsätze direkt zu meinen liebgewonnenen, wenn auch kostspieligen, Unarten überzugehen. Nehmen wir als kleines Beispiel die Startkartendisziplin am Omaha-Tisch. In meinen Anfängen als Profispieler war ich mit so unfassbar viel Glück gesegnet, dass ich gar nichts richtig machen musste, da konnte ich einfach nichts Falsches tun. Einfach dasitzen und Karten in der Hand halten war schon genug. Mein einziger Fehler wäre zur damaligen Zeit gewesen, nicht ins Casino zu gehen. Ein Fachbuch wollte ich schreiben. Das Omaha-Standardwerk für das nahende neue Jahrtausend. Unverzichtbar für jede gut sortierte Pokerbibliothek. Arbeitstitel: „Die vierte Karte ist praktisch egal – Drei Gute sind gut genug“ und in der Unterzeile ein bescheidenes „Wie ich meine erste Omaha-Million gewann“ – von Götz Schrage!“. Im Moment liegt das Projekt auf Eis und so ehrlich muss ich sein – es könnte noch ein wenig dauern, besonders das mit der „Million“ zieht sich brutal in die Länge. Nächstes Etappenziel wäre ganz bescheiden in diesem Jahr auf plus/minus Null zu kommen und das wird schon schwer genug. Vielleicht sollte ich meine Thesen ein wenig den Realitäten angleichen? Vielleicht wäre es schlau, die Dinge zu nehmen, wie sie wirklich sind. Vielleicht, natürlich nur ganz vielleicht, sollte ich zurück an den Start gehen. Quasi zurück auf den Highway. Nächste Ausfahrt Omaha Süd und das mit der vierten Karte überlege ich mir auch noch mal.
„Heute gehe ich früh ins Bett. Morgen wird ein anstrengender Tag!“. Wieder dasselbe Muster. Ich nehme mir etwas vor und teile meine guten Vorsätze mit der zum Teil recht desinteressierten Umgebung. So manchen Taxifahrer werde ich vermutlich mit meinen Terminen und Schlafdefiziten gelangweilt haben. Aber egal, ich gebe gutes Trinkgeld und die meisten werden mich wohl nicht wirklich verstanden haben. An dieser Stelle erzähle ich gerne die Geschichte einer Wiener Legende. Nennen wir ihn Anton. Herr Anton war ein regelmäßiger Besucher der hohen Partien. Immer sehr korrekt gekleidet und immer mit ganz klaren Vorgaben. „Spätestens um 4.00 Uhr muss ich gehen. Diesmal wirklich“. 48 Stunden später war er meist noch im Casino und manchmal wurde es dann tatsächlich 4.00 Uhr bis das Geld zur Neige ging. Bezüglich des Wochentages, hatte sich Herr Anton ja schlauerweise gar nicht erst festgelegt. Einmal kam er ganz besonders elegant gekleidet zum Start der Partie. „Ich muss um 8.45 Uhr aufbrechen“. Und tatsächlich, um halb acht wurde Herr Anton bereits ein wenig unruhig. Um 8.40 Uhr rief er die Kellnerin, zahlte, stand auf und verschwand mit den Worten: „Ich muss mich beeilen, ich heirate um 9.00 Uhr“. – Ich bin schon verheiratet und das noch dazu glücklich. Mich hält nichts und ich halte mich an keine Termine. Sobald die Chips knattern und die Karten surren, tauche ich in eine andere Zeitzone ein und das ohne den gefürchteten Jetlag. Vielleicht sollte ich mir einfach vornehmen, mir bezüglich Termine einfach nichts mehr vorzunehmen? Die Alternative wäre, an meiner Disziplin zu arbeiten. Kein verlockender Gedanke.
Irgendwann wird abgerechnet. Gnadenlos sollte man sich als Spieler seiner Bilanzen bewusst sein. Für den Ungeübten wohl eine traurige Stunde der Wahrheit. Möglicherweise gefolgt von Momenten der bitteren Selbsterkenntnis, aber nicht für mich! Wie war das noch mal? Letzten Mittwoch habe ich die Summe X verloren, dafür habe ich am Dienstag gewonnen. Zumindest beim Pokern gewonnen, allerdings die große Sportwette verloren (sicher nicht meine Schuld, wahrscheinlich eine geschobene Geschichte). Am vorigen Sonntag habe ich wirklich gewonnen, oder habe ich am Sonntag gar nicht gespielt? Oder kann man bei meiner aktuellen Form nicht spielen irgendwie bereits als gewinnen verbuchen? Letzten Freitag war ich zweifelsfrei schön im Plus. Da habe ich mich beteiligt und diesmal beim richtigen Mann. Dabei wollte ich unbedingt absagen und meine Beteiligung zurückziehen, nur habe ich an dem Tag mein Handy verloren und wusste die Nummer nicht. Mit anderen Worten, meinen größten Gewinn verdanke ich dem temporären Verlust meines Handys. Und kann man daraus etwas lernen? Ich glaube nicht. Eines allerdings weiß ich sicher, wenn ich lang genug rechne und maximal einen Abend vergesse in meiner Bilanz (wir Hobbypsychologen sprechen von der „einmaligen Resultatverdrängung“), kommt am Ende Null heraus und da sind die Getränke und Taxispesen schon dabei. Während der Beweis für die „Collatz-Vermutung“ laut „Spiegel“ also noch überprüft werden muss, funktioniert meine These bereits seit Jahrzehnten. Kleines Beispiel gefällig? Letzten Mittwoch habe ich am Omaha-Tisch wieder eins auf die Mütze bekommen – das war noch in der „drei gute Karten reichen-Phase“. Jedenfalls hat mich die Niederlage zu dieser Kolumne inspiriert und wenn ich jetzt das fürstliche Honorar gegenrechne, bin ich auf einmal fast im Plus!
Abschließend noch ein paar Bemerkungen zum Thema Aberglaube am Pokertisch. Auch da habe ich mir etwas vorgenommen. Bisher war ich stolz darauf, absolut nicht abergläubisch zu sein. Jetzt ist mir das einfach zu anstrengend. Selbstverständlich scheitere ich bei asiatischen Dealern mit meinen Draws, habe aber eine gute Bilanz bei hohen Paaren. Am Tisch Geld verleihen bringt tatsächlich Unglück. So oder so. Und wenn man Scheine zurück wechselt und trotzdem weiterspielt, ist einem einfach nicht zu helfen! – Ich habe einen chinesischen Freund, der weiß alles. Der ist so abergläubisch, dass man sein Portrait neben den Wikipedia-Eintrag „Superstition“ montieren könnte. Und während ich die Welt – und insbesondere die Pokerwelt – oft nicht verstehe, weiß er auf alles eine Antwort und hat damit gewissermaßen Kontrolle über das sonst so unkontrollierbare Spielgeschehen. Besonders gut gefällt mir die optimistische These, die zugeteilten Karten seien noch nicht endgültig definiert. Man muss respektvoll mit ihnen umgehen, besonders beim ersten Kontakt. Der zählt eben, wie im richtigen Leben auch. Eine unhöfliche, nachlässige Musterung der Hand macht bei Hold’em aus König/König eben schnell mal König/Neun. Vielleicht ein weiterer Aspekt für meinen neuen Omaha-Ansatz. Schenke der vierten Karten mehr Respekt, und aus der schwarzen Fünf wird doch noch eine rote Neun. Dann habe ich die Asse doublesuited und kann alles Geld in die Mitte schieben. Wenn ich dann noch schnell mein Handy vorher verliere, sind die Nuts garantiert und es klappt vielleicht doch noch mit der Million.
Autor: Götz Schrage